Wenn Kultur und Wissenschaft verschmelzen

Die ETH Zürich archiviert Kulturgüter und macht sie der ?ffentlichkeit zug?nglich. Gleichzeitig pr?gt sie die Schweizer Kultur wie kaum eine andere Institution.

?Das war sensationell!?, sagt Walter Zweifel und meint damit den Moment, als er vor zwei Jahren ein Foto seines Heimatdorfes Linthal aus dem Jahr 1898 fand. Der pensionierte Schreiner suchte über Google nach historischen Bildern von Linthal, als er auf das Online-Bildarchiv der ETH-Bibliothek (e-pics) stiess. Dass er kurz darauf sein heute gr?sstes Hobby entdecken würde, ahnte Walter Zweifel nicht.

Heute verbringt er durchschnittlich 24 Stunden pro Woche damit, Kulturgüter auf alten Fotografien zu identifizieren und dieses Erbe zu pflegen. Er ist einer von rund 920 Freiwilligen, die bei verschiedenen Crowdsourcing-Projekten der ETH-Bibliothek mitmachen.

Angefangen hat er damit, historische Fotos seines Heimatkantons für das ETH-Bildarchiv zu beschreiben und falsche Angaben zu korrigieren. Mittlerweile hat der Naturliebhaber an dem Projekt ?sMapshot? noch mehr Freude. Mithilfe digitaler 3-D-Modelle bestimmt er die exakte geografische Position von Schweizer Ortschaften auf alten Bildern. Der Glarner hat bereits über 3‘000 Fotos georeferenziert. Am Kulturerbetag der ETH Zürich nahm er an einem Workshop für das neueste Crowdsourcing-Projekt der ETH-Bibliothek teil: ?e-manuscripta?. In Zukunft will Walter Zweifel auch dabei helfen, digitalisierte handschriftliche Dokumente online zu transkribieren.

Die ETH als Motor der Schweiz

Kulturgüter zu digitalisieren und damit der Bev?lkerung bereit zu stellen, geh?rt neben deren Aufbewahrung zu den Aufgaben der Bibliothek und der 22 Sammlungen und Archive der ETH Zürich. Zahlreiche Archive sind auch international von grosser Bedeutung. Eines davon ist das Archiv des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur (gta).

Das gr?sste Architekturarchiv der Schweiz befindet sich auf dem 澳门美高梅金殿 H?nggerberg. Pl?ne, Fotografien, Briefe und Modelle von 250 bedeutenden Architektinnen und Architekten werden hier aufbewahrt. Vor allem Forschende, Studierende und Medienschaffende nutzen das Archiv. ?Viele der internationalen Besucher kommen wegen Semper?, sagt Bruno Maurer, der das gta Archiv seit 17 Jahren leitet. Gottfried Semper war einer der wichtigsten Architekten des 19. Jahrhunderts und gleichzeitig der Begründer und erster Professor der Bauschule, dem heutigen Architekturdepartement der ETH. In seinem Nachlass befinden sich rund 800 Pl?ne für das Hauptgeb?ude unserer Hochschule.

?Das ETH-Hauptgeb?ude geh?rt zu den Bauten, die die Zürcher und auch die Schweizer Kultur am meisten pr?gen?, sagt Bruno Maurer und erkl?rt: ?Zum einen spielt die ETH für das Stadtbild eine grosse Rolle und zum anderen repr?sentiert das Geb?ude wie kein anderes die Bedeutung von Bildung und Wissenschaft für die Schweiz. Viele sehen die ETH als Motor der Schweiz und empfinden einen gewissen Stolz.?

Die ETH plant die Schweiz

Stolz sind auch die Basler auf ihre Antonius-Kirche. Sie gilt als eines der Hauptwerke der Schweizer Architektur und wurde von dem Absolventen und sp?teren Professor der ETH Karl Moser gebaut. Die Architekten des Landesmuseums und des Prime Towers haben ebenfalls an unserer Hochschule studiert und kehrten sp?ter als ProfessorInnen an die ETH zurück. Auch ihre Entwürfe befinden sich zum Teil im gta Archiv. Archiviert werden ausserdem die historischen Best?nde der Raum- und Landschaftsplanung.

Tats?chlich wurde auch die Raum- und Infrastrukturplanung der Schweiz massgeblich von der ETH mitgepr?gt. Zum einen, weil nur hier Raumplaner ausgebildet werden und zum anderen ?weil ETH-Forschende eng mit unseren Absolventinnen und Absolventen in den regionalen und kantonalen Planungsbüros zusammenarbeiten, m?gliche Zukunftsszenarien aufzeigen und an L?sungen für zukünftige Probleme mitarbeiten?, sagt Bernd Scholl, soeben emeritierter ETH-Professor am Institut für Raum- und Landschaftsentwicklung.

Bernd Scholl hat Anfang der achtziger Jahre selbst an der ETH Zürich den Nachdiplomstudiengang in Raumplanung absolviert. Seit zw?lf Jahren leitet er die Weiterbildungsangebote in Raumplanung an unserer Hochschule. ?Was an der ETH schon lange gelehrt wurde, wird nun endlich umgesetzt?, sagt der 64-J?hrige und meint damit den Planungsgrundsatz, dass Innenentwicklung vor Aussenentwicklung kommt. Dieses Prinzip hat das Schweizer Stimmvolk 2013 mit der Revision des Raumplanungsgesetzes angenommen. Damit lassen sich bestehende Siedlungsgebiete verdichten und beispielsweise stillgelegte Industriegel?nde neu nutzen, anstatt auf grüner Wiese zu bauen. Denn eine Zersiedelung führe unter anderem zu weniger Erholungs- und Landwirtschaftsfl?che sowie zu einem h?heren Energieverbrauch.

Forschung
1930: Ab den 30er Jahren gewann die Forschung neben der Lehre vermehrt an Bedeutung.
Forschung
2018: Die ETH ist seit Jahren eine der renommiertesten Hochschulen der Welt.  

Linthal hat Vorbildcharakter

Um die Raumplaner bei der Innenverdichtung zu unterstützen hat Bernd Scholl im Jahr 2006 mit dem Projekt ?Raum+? begonnen. In Kooperation mit Kantonen und Gemeinden hat er herausgefunden, in welchen Ortschaften die meisten bereits rechtskr?ftig eingezonten Siedlungsfl?chen vorhanden sind. ?Zwei Drittel der Reserven befinden sich in kleinen und mittleren Gemeinden mit unter 10‘000 Einwohnern?, sagt der Professor.

Solch eine Gemeinde ist auch Linthal, die im Jahr 2011 mit anderen Gemeinden zu Glarus Süd zusammengelegt wurde. ?In Linthal wurde das Industrieareal einer geschlossenen Spinnerei vor kurzem zu einem modernen Gesundheits- und Pr?ventionszentrum umgebaut. In den n?chsten Jahren kommt noch ein generationsübergreifendes Wohnprojekt hinzu?, erz?hlt Walter Zweifel, der nie aus Glarus weggezogen ist.

Woher kommt die Heimatliebe?

Und seine Heimatverbundenheit kommt nicht von ungef?hr. ?Die Schweiz hatte schon sehr früh ein gut ausgebautes Eisenbahnnetz?, sagt Bernd Scholl. Dadurch, dass auch kleine Ortschaften erschlossen sind, der ?V modern und verl?sslich ist, und die Reisedauer von Stadt zu Stadt vergleichsweise kurz ist, sei der Anreiz aufgrund eines Arbeitsplatzwechsels umzuziehen, viel kleiner als in anderen L?ndern. Hinzu kommen der F?deralismus und die direkte Demokratie: ?Jede Gemeinde ist stolz auf ihre Identit?t, und die Bewohner k?nnen über die kleinsten Ver?nderungen, wie etwa die Renovation eines Schulhauses, mitentscheiden. Das festigt ihre Identifikation mit der Gemeinde und die soziale Verankerung?, erkl?rt der Professor. Nirgendwo in Europa habe die Raumplanung einen so hohen Stellenwert und sei so professionalisiert wie in der Schweiz.

Aber es sind nicht nur die Architektinnen und Raumplaner der ETH, die die Kultur der Menschen in der Schweiz pr?gen. Ob der erste Personal Computer (PC), die erste bewegliche Prothese oder der erste Grossbildprojektor – ETH-Erfindungen haben das Leben von Millionen von Menschen auf der ganzen Welt ver?ndert. Erst kürzlich wurde die ETH-Physikerin Ursula Keller mit dem Europ?ischen Erfinderpreis für ihr Lebenswerk ausgezeichnet (ETH-News berichtete). Weibliche Vorbilder wie sie tragen zudem dazu bei, dass sich mehr junge Frauen eine wissenschaftliche Karriere zutrauen.

Walter Zweifel strebte nie eine wissenschaftliche Karriere an. Vor 24 Jahren erfüllte er sich seinen Traum und er?ffnete eine Schreinerei mit vier Kollegen. Diese Gründerkultur verbindet ihn mit vielen ETH-Absolventen von heute: J?hrlich werden rund 25 ETH-Spin-offs gegründet. ?ber 90 Prozent überleben die ersten fünf Jahre, viele sind auch international sehr erfolgreich.

ETH-Spin-offs kurbeln Wirtschaft an

?Die ETH unterstützt Studierende und Doktorierende, die ein Spin-off gründen m?chten. Denn sie schaffen Innovationen und die Arbeitspl?tze von morgen?, erkl?rt Detlef Günther, Vizepr?sident für Forschung und Wirtschaftsbeziehungen. ?Viele Startups versuchen ein gegenw?rtiges oder zukünftiges Problem zu l?sen. Die Gründerinnen und Gründer wollen etwas Sinnvolles tun, sich verwirklichen und unabh?ngig sein. Dafür sind sie bereit, Tag und Nacht in ihr Unternehmen zu investieren. Das kurbelt natürlich auch die Wirtschaft an?, so der Vizepr?sident.

Etwas Sinnvolles zu machen, hat auch Walter Zweifel motiviert, seine Freizeit in Crowdsourcing-Projekte der ETH-Bibliothek zu investieren. Ausserdem reizt ihn der Wettkampf mit den anderen Freiwilligen: Jeden Monat wird online eine Rangliste mit den zehn Teilnehmenden erstellt, die die meisten Bilder georeferenziert haben. ?Im Mai war ich auf Platz eins?, sagt Walter Zweifel und fügt an: ?Ein bisschen stolz bin ich schon. Ich war schon immer ein grosser Fan der ETH.?

JavaScript wurde auf Ihrem Browser deaktiviert