«Wir haben uns ständig bewegt und verändert»
Die Vorsteherin des Departements Umweltsystemwissenschaften Nina Buchmann blickt auf 150 Jahre Agrarwissenschaften zurück. H?hepunkte gab es viele, aber am augenf?lligsten sind die massiven Ver?nderungen in Forschung und Lehre.
ETH-News: Das Departement Umweltsystemwissenschaften (D-USYS) feiert in diesem Jahr 150 Jahre Agrarwissenschaften an der ETH Zürich. Was waren in Ihren Augen Meilensteine?
Nina Buchmann: 150 Jahre in zwei S?tzen zusammenzufassen, ist schwierig. Und was ein Meilenstein ist, liegt auch im Auge des Betrachters. Viele H?hepunkte haben wir auf unserer Webseite www.agri150.ethz.ch zusammengestellt. Mir f?llt bei n?herer Betrachtung vor allem auf, wie sehr sich Forschung und Lehre, aber auch die Organisation ver?ndert haben.
Welche Ver?nderungen sind bemerkenswert?
Die Agrarwissenschaften an der ETH begannen mit zwei Professoren und 5 Studenten. Jetzt sind es 12 Professorinnen und Professoren und rund 400 Studierende. Extrem ver?ndert hat sich die Forschung, manchmal im Rahmen des herrschenden Zeitgeistes, aber auch aufgrund der ver?nderten Anforderungen an das Fach. Sehr lange befassten sich die Agrarwissenschaften fast ausschliesslich mit der Nahrungsmittelproduktion. Heute steht die Nachhaltigkeit im Fokus, etwa nachhaltige Bewirtschaftungsmethoden und die Agrar?kologie. Der zweite Aspekt, der sich stark ver?ndert hat, ist der Forschungsansatz, man ist im Laufe der Zeit weggekommen vom Denken in Einzelmassnahmen und hat zum Systemdenken gefunden. Die Agrarwissenschaften haben sich mit anderen Disziplinen vernetzt, unter anderem mit den Sozial- und den Umweltwissenschaften. Und nicht zuletzt sind wir in der Agrarforschung international geworden. Wir kümmern uns nicht mehr vor allem um Landwirtschaft in der Schweiz, sondern auch in den L?ndern des Südens. Das finde ich beeindruckend und zeigt zudem, was die ETH Zürich auszeichnet: ihre F?higkeit zur Ver?nderung. Der ETH wird ja oft vorgeworfen, sie würde sich nicht bewegen. Aber wir bewegen und ver?ndern uns st?ndig!
Noch vor zehn Jahren waren die Agrarwissenschaften ein eigener Silo. Heute muss man sie in den Umweltsystemwissenschaften ?suchen?. Sagt dies etwas aus über deren Stellenwert?
Das stimmt nicht. Die Agrarwissenschaften waren kein Silo. Vor der Fusion 2012 waren die Agrarwissenschaften mit den Lebensmittelwissenschaften in einem Departement (D-AGRL) vereint, gemeinsame Forschung und Lehre fanden statt. Zudem unterhielt das D-AGRL schon damals viele Verbindungen zu den Umweltwissenschaften. Direkt nach der Fusion des Instituts für Agrarwissenschaften mit dem Departement Umweltwissenschaften untersuchten wir, wer im D-USYS mit wem in der Forschung zusammenarbeitete – unser Institut war dasjenige, welches mit anderen Instituten im Departement am st?rksten vernetzt war. Wir behielten zudem unsere Verbindung mit den Lebensmittelwissenschaften. Wie gut wir stets vernetzt waren und sind, erkennt man auch am World Food System Center, das ich als Gründungsleiterin 2011 mit anderen ins Leben rufen durfte. Mittlerweile sind ihm 46 Professuren aus sieben 澳门美高梅金殿n der ETH Zürich und einige Arbeitsgruppen der Eawag angeschlossen.
Aber gibt es nicht noch immer Stimmen, die der ETH vorwerfen, nur Grundlagen zu erforschen und die landwirtschaftliche Praxis zu vergessen?
Wir sind eine Universit?t, wir sind keine Fachhochschule und betreiben keine Ressortforschung. Aber unser Angebot erg?nzt das der anderen Schweizerischen Institutionen im landwirtschaftlichen Informations- und Innovationssystem. Wir k?nnen und sollen ja nicht alles machen. Man kann nicht in den internationalen Rankings ganz vorne dabei sein – was die ETH als Ganzes und die verschiedenen Disziplinen im D-USYS, inklusive der Agrarwissenschaften, regelm?ssig sind – und gleichzeitig auf sehr spezifische Bedürfnisse der Praxis eingehen wollen. Wir sind in der Schweiz die einzige Forschungsuniversit?t, die Agrarwissenschaften anbietet. Ja, wir machen Grundlagenforschung, aber mit dem Anspruch, dass die Erkenntnisse daraus anwendbar sind.
Welches sind die aktuell wichtigsten Forschungsfelder?
Wir arbeiten auf den drei ?klassischen? Gebieten Pflanzenwissenschaften, Tierwissenschaften sowie Agrar?konomie und Politik. Gemeinsam bilden diese Fachbereiche die Agrarwissenschaften und sind eingebettet in das Konzept des Ern?hrungssystems.
Was sind die Ziele der Forschung?
Wir m?chten in erster Linie Agrarsysteme verstehen und mit diesem Wissen dazu beitragen, nachhaltige L?sungen zu entwickeln, um die globalen Herausforderungen wie zum Beispiel den Klimawandel, die Ressourcenübernutzung oder den Biodiversit?tsverlust anzugehen. Dazu nutzen wir zum einen klassische Methoden, zum anderen moderne Ans?tze wie aus der Robotik und der Digitalisierung. Wir forschen vor allem auf Systemebene, lokal bis global. Zum Beispiel über Ern?hrungssysteme: Hier wollen wir herausfinden, wie wir diese nachhaltiger und widerstandsf?higer machen k?nnen. Wir müssen lernen, wie wir den Klimawandel und den Biodiversit?tsverlust verringern k?nnen, aber auch, wie wir damit umgehen, wenn wir sie nicht verhindern k?nnen. Wir müssen uns überlegen, wie wir auch unter diesen Bedingungen die Ern?hrungssicherheit gew?hrleisten k?nnen. Dazu braucht es unsere Grundlagenforschung, u.a. neue Pflanzenzüchtungen und passende Saatgutmischungen, aber auch smarte Bewirtschaftungsmethoden für unsere B?den, mit denen weniger Klimagase in die Atmosph?re abgegeben werden.
Der Druck auf die Landwirtschaft steigt, nicht nur aufgrund des Klimawandels. B?den versalzen, die Bodenfruchtbarkeit und die Artenvielfalt nehmen weltweit ab.
Ja, und deswegen müssen wir an vielen Fronten forschen und etwas tun: nicht nur mit Vorschriften, sondern mit Einsichten. Gerade wenn einmal 10 Milliarden Menschen auf der Erde leben werden, wird es zwar m?glich sein, alle zu ern?hren, aber halt anders als bisher. Letztendlich müssen wir die Nachhaltigkeit gesamtheitlich umsetzen, nicht nur die ??kologie-Ecke des Nachhaltigkeitsdreiecks?, sondern wir müssen die ?konomie und die Gesellschaft miteinbeziehen.
Weshalb sollte ein Bauer die Biodiversit?t in seine ?berlegungen einbeziehen?
Aufgrund eigener Forschung in meiner Gruppe und in Zusammenarbeit mit der Agrar?konomie-Gruppe von Robert Finger kann ich sagen: Biodiversit?t im Grasland und daher auch im Futterbau ist ein Produktionsfaktor. Wir konnten zeigen, dass mit erh?hter Biodiversit?t die Ertr?ge steigen und vor allem stabiler sind gegenüber Umwelteinflüssen – und dass sich das auch rechnet. Ich gehe davon aus, dass sich mehr Biodiversit?t auch im Ackerbau und im Agroforst auszahlt. Dann mag bei einer Trockenheit oder bei einem Sp?tfrost der Ertrag einer Pflanzenart um 20 Prozent zurückgehen, dafür steigt derjenige einer anderen. Es gibt aber keinen Totalausfall wie bei einer Monokultur. Zudem profitiert auch unter Normalbedingungen eine Art von der anderen. Der Einbezug von Biodiversit?t in agrar?konomische ?berlegungen wird mit der Digitalisierung wahrscheinlich noch mehr an Fahrt aufnehmen.
Was sind die neusten Entwicklungen in der Lehre?
In der Lehre haben wir 2016 die Studiengang-Reform abgeschlossen. Von Anfang an war klar, dass die Ausbildung auf Bachelorstufe breit sein soll, also die bereits genannten Standbeine Pflanze, Tier, ?konomie und Politik umfassen muss. Darauf aufbauend folgt im Master die Spezialisierung. Wir haben im Bachelor wieder ein Praktikum auf einem Schweizer Bauernhof eingebaut. Der Master wurde von 3 auf 4 Semester erweitert, um zus?tzlich ein Forschungspraktikum zu integrieren. Ge?ndert hat sich in den letzten 30 Jahren auch, dass wir mehr Wert legen auf quantitative F?higkeiten, also auf Datenanalyse und Auswertung, sowie das Verschriftlichen und Pr?sentieren der Ergebnisse und Erkenntnisse. Das z?hlt ja nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im Berufsleben.
Hat sich die Studiengangreform ausbezahlt?
Ja. Was wir so h?ren, kommt der Studiengang sehr gut an, sowohl bei den Studierenden als auch bei denen, die die Abg?ngerinnen und Abg?nger sp?ter anstellen. Fast alle Absolventinnen und Absolventen haben acht Monate nach Studienabschluss eine Anstellung. Das Spektrum ist extrem vielf?ltig, von NGOs, Industrie- und Detailhandelsbetrieben zu landwirtschaftlichen Schulen. Aber auch Banken, Dienstleister und Versicherungen oder die ?ffentliche Verwaltung stehen auf der Liste. Rund 15 Prozent machen ein Doktorat.
Wie werden sich Lehre und Forschung künftig weiterentwickeln?
Von den Themen her ist die Digitalisierung in der Landwirtschaft – Stichwort Smart Farming und Agriculture 4.0 – gesetzt. Da werden dann auch Anwendungen der Künstlichen Intelligenz genutzt, zum Beispiel Bilderkennung bei der Unkrautbek?mpfung. Themen wie wir Ressourcen – Wasser, Dünger, Boden – umweltschonend bewirtschaften, bleiben uns erhalten. In der Lehre wird der Umgang mit grossen Datenmengen im Fokus stehen.
Sie geben bald die Departementsleitung ab. Was waren für Sie H?hepunkte oder wichtige Erfahrungen?
Ich war nun vier Jahre Vorsteherin und zuvor fünf Jahre Vize-Vorsteherin, insgesamt also neun Jahre in der Departementsleitung. Es war viel Arbeit, es gab aber auch viele sch?ne Momente. Seit der Fusion der Agrarwissenschaften mit dem D-UWIS haben wir viel erreicht, nicht nur organisatorisch, sondern auch in der Forschung und in der Lehre. Ausgezahlt hat sich in dieser Zeit auf der einen Seite eine offene Kommunikation mit klaren Zielen, auf der anderen Seite Offenheit, Wertsch?tzung und Interesse an den Personen im Departement und an ihrer Arbeit. Damit kommt man sehr weit, eine Erfahrung, die ich gerne mitnehme.
Was haben Sie sich nun vorgenommen?
Ich verschnaufe erst mal und nehme ein halbj?hriges Sabbatical. Die Forschung und Lehre habe ich ja nie aufgegeben. Ein paar Dinge, die ich delegieren musste, nehme ich wieder zurück. Weiterlaufen wird mein Engagement im Projekt ?rETHink?. In meiner Forschungsgruppe haben zudem neue Projekte gestartet, und einige Antr?ge sind noch h?ngig. Es wird mir also bestimmt nicht langweilig.
150 Jahre Agrarwissenschaften
1871 wurde an der ETH Zürich die Abteilung Landwirtschaft gegründet. Nun feiert das Institut für Agrarwissenschaften sein 150-j?hriges Bestehen mit verschiedenen Events im Jubil?umsjahr.
Auf der Jubil?umswebseite finden Sie eine Zeitschiene mit historischen Fakten und ausgew?hlten Artikeln aus den vergangenen 150 Jahren.