Seit 50 Jahren unterstützt die Psychologische Beratungsstelle der UZH und der ETH Studierende bei psychischen Problemen. Im Interview erl?utert Cornelia Beck, Leiterin der Beratungsstelle, ob sich die Anliegen der Studierenden in dieser Zeit ver?ndert haben, weshalb im Master mehr ETH- als UZH-Studierende ihren Rat suchen und welches Umdenken an den Hochschulen wichtig w?re.
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Cornelia Beck, wie kam es zur Gründung der Psychologischen Beratungsstelle vor 50 Jahren?
Cornelia Beck: Ausschlaggebend war der Wunsch der Studierenden selbst. Im Zuge der Studentenbewegung in den 1968er-Jahren forderten sie u.a. mehr Demokratie und Reformen an den Hochschulen. Die Studierenden wünschten sich mehr Unterstützung in dieser anspruchsvollen Lebensphase, in der sie sich mit vielen Anforderungen konfrontiert sahen, doch wenig finanzielle Ressourcen hatten. Um diesem Wunsch zu entsprechen, wurde 1972 unsere Beratungsstelle gegründet – als erste in der Schweizer Hochschullandschaft.
Wie viele Beratungsgespr?che führen Sie heute pro Jahr?
2021 haben wir gesamthaft rund 5100 Gespr?che geführt. Erstanmeldungen verzeichneten wir in diesem Zeitraum 1700. Dazu kommen gut 500 Personen, die zu einem Folgegespr?ch kamen. Gesamthaft haben wir im letzten Jahr also rund 2200 Studierende beraten. Zum Vergleich: Im Gründungsjahr 1972 gab es etwa 100 Erstgespr?che, 2007 waren es 700 und im Jahr 2016 bereits 1100 Erstgespr?che.
Mit welchen Problemen kommen die Studierenden am h?ufigsten zu Ihnen?
Viele Studierende, die zu uns kommen, fühlen sich in einem oder in mehreren Bereichen ihres Lebens belastet. Sie erleben z.B. Konflikte in Beziehungen, die sich negativ auf die Leistungsf?higkeit im Studium auswirken, und umgekehrt. Diese beiden Bereiche sind schwer voneinander zu trennen und miteinander verbunden. Ein klassisches Beispiel: Ein Student leidet unter zunehmenden Motivations- und Lernschwierigkeiten, die er sich nicht erkl?ren kann. Nach ein paar Sitzungen erz?hlte er, dass er in die beruflichen Fussstapfen seiner Eltern treten solle, dies jedoch nicht seinem Wunsch entspreche.
Haben sich diese Problemfelder in den letzten 50 Jahren ver?ndert?
Nein, die Anliegen der Studierenden haben sich in dieser Zeit wenig ver?ndert. Dies hat mit ihrer Lebensphase zu tun. Die Studierenden befinden sich in der Sp?tadoleszenz und sind mit bestimmten Entwicklungsaufgaben konfrontiert: Wie kann ich mich von zuhause l?sen? Kann ich in der Gesellschaft bestehen? Bin ich so leistungsf?hig, wie es die Hochschule von mir erwartet? Wer bin ich – als Individuum und in der Gesellschaft? Diese Fragen haben sich in den letzten 50 Jahren kaum ver?ndert.
?Viele Studierende haben Mühe mit der Anonymit?t.?Cornelia Beck
Gibt es dennoch Dinge, die heute anders sind?
Ja, der zeitliche Druck hat stark zugenommen. Entsprechend m?chten viele Studierende schnell vorw?rts kommen. Fast alle orientieren sich an der Regelstudienzeit. Sie sehen nicht, dass sie ihr Studium in dieser Zeit minimal absolvieren k?nnen, sondern sie denken, dass sie in dieser Zeit ihr Studium absolvieren müssen. Dadurch machen sie sich grossen Druck und sind entsprechend leistungsorientiert.
Zudem haben sich auch die Hochschulen in den vergangenen 50 Jahren ver?ndert. Sie sind zu grossen Organisationen herangewachsen und viele Studierende haben Mühe mit der Anonymit?t. Sie fühlen sich unscheinbar, unsichtbar und das schadet der Motivation. Diese erlebte Indifferenz ist meines Erachtens bedrohlich für die Entwicklung von eigenst?ndigem und kritischem Denken.
Welche Einstellung haben die heutigen Studierenden zur psychologischen Beratung?
Einerseits hat bei den Studierenden die Bereitschaft, eine Beratung in Anspruch zu nehmen, zugenommen. Sie scheinen eine Kompetenz entwickelt zu haben, die es ihnen erm?glicht, sich schneller Hilfe zu holen. Gleichzeitig sind die Studierenden wie erw?hnt mit einem grossen Druck konfrontiert. Sie müssen effizient, leistungsf?hig und schnell sein, und sie sind einem grossen Selektions- und Konkurrenzdruck bei hoher zeitlicher Belastung ausgesetzt.
Diese Erwartungen bemerken wir auch h?ufig in der Beratung. Es soll am besten eine schnell wirksame und vorgefertigte L?sung mit konkreten Tipps geben. Dabei ist eine Pers?nlichkeitsreifung ohne psychische Anstrengung kaum m?glich.
Das ist die Beratungsstelle
Die Psychologische Beratungsstelle bietet allen Studierenden und Doktorierenden der Universit?t Zürich und der ETH Zürich psychologische Unterstützung bei Lern- und Leistungsst?rungen, Entscheidungs- und Orientierungsschwierigkeiten, Beziehungskonflikten und anderen pers?nlichen Problemen an. Die Beratungen sind kostenlos und vertraulich. externe Seite Mehr Informationen über die Beratungsstelle.
Welche Unterschiede stellen Sie bei den Studierenden fest, die zu Ihnen kommen?
Zum einen ist der Prozentsatz der Frauen – wie bei allen psychosozialen Angeboten – h?her als jener der M?nner. 60% unserer Klient:innen sind Frauen. Insbesondere die Studentinnen und Doktorandinnen der ETH suchen uns h?ufiger auf als diejenigen der UZH. Generell sind Frauen aufgrund ihrer Sozialisation eher bereit, sich Unterstützung zu holen und über Probleme zu sprechen.
Gibt es weitere Unterschiede?
?ber 25% der Beratungen werden von Studierenden internationaler Herkunft wahrgenommen. H?ufig haben sie vieles auf sich genommen, um hier zu studieren, sie reisen an mit Erwartungen und Unsicherheiten im Gep?ck, betreffend sich, den anderen und der Hochschule. Entt?uschungen, Kommunikationsprobleme und kulturelle Unterschiede k?nnen folglich die Immigration erschweren und zu starken psychosozialen Belastungen führen.
Ein weiterer Unterschied: Bachelor-Studierende melden sich tendenziell h?ufiger, wenn sie an der UZH studieren und weniger oft, wenn sie an der ETH sind. Bei den Masterstudierenden und den Doktorierenden ist es umgekehrt: Diejenigen der ETH melden sich h?ufiger als diejenigen der UZH.
?Der hohe Leistungsanspruch, die Internationalit?t und eine teils fehlende Fehlerkultur führen h?ufig zu Stress, Konflikten und psychosozialen Belastungen.?Cornelia Beck
Weshalb?
Viele Studierende, die an der ETH starten, haben für diese M?glichkeit vieles auf sich genommen. Das Studium ist sehr strukturiert und die Leistung steht im Fokus. Schwierigkeiten werden auf die Seite gedr?ngt und finden erst zu einem sp?teren Zeitpunkt Platz. Auf Masterstufe h?ren wir von vielen ETH-Studierenden, dass sie von einer anderen Schweizer Hochschule oder vom Ausland an die ETH gewechselt haben und sich mit hohen Leistungsanforderungen konfrontiert sehen. Der hohe Leistungsanspruch, die Internationalit?t und eine teils fehlende Fehlerkultur führen h?ufig zu Stress, Konflikten und psychosozialen Belastungen. Sie zweifeln, ob sie den diversen Herausforderungen gewachsen sind.
Nun feiert die Beratungsstelle Jubil?um. Welche Wünsche haben Sie für die Zukunft?
Der Beratungsstelle wünsche ich, dass sie mit den Studierenden wachsen und sich weiterentwickeln kann. Dass sie als eine M?glichkeit wahrgenommen wird, an die sich die Studierenden vertrauensvoll wenden k?nnen und die ihnen hilft herauszufinden, was ge?ndert werden müsste, damit ein erfolgreicheres Lernen und zufriedeneres Leben m?glich ist. Diese Einsichten und ersten Ver?nderungsschritte helfen pers?nliche Emanzipations- und Reifungsprozesse anzustossen, die auch für die akademische und wissenschaftliche Identit?tsfindung notwendig sind. Dieses Bewusstsein an den Hochschulen st?rker zu verankern ist mir ein grosses Anliegen.
Es braucht also ein gewisses Umdenken an den Hochschulen?
Ich wünschte mir wieder mehr Bewusstsein dafür, dass universit?re Bildung mehr umfasst, als eine Berufsausbildung. Mein Eindruck ist, dass durch Bologna das Punktez?hlen und der zeitliche Faktor so in den Fokus gerückt sind, dass sich viele Studierende nicht mehr die Zeit nehmen sich selbst zu fragen, welche Bereiche sie noch interessieren und welche F?cher sie für ein Semester noch belegen m?chten. Dabei sollte ihnen die Zeit und der Raum, die zur Ausbildung einer akademischen und wissenschaftlichen Identit?t führen, gegeben werden.
Und es sollte das Bewusstsein vorhanden sein, dass es allen Studierenden passieren kann, dass sie in eine schwierige Phase geraten. Und dass dies nichts über die Eignung als Akademiker:in aussagt.
50 Jahre Beratungsstelle
Anl?sslich des diesj?hrigen Jubil?ums finden Anfang Oktober eine Podiumsdiskussion für alle Interessierten sowie Workshops für Studierende und Doktorierende statt. Eine Installation im Lichthof UZH sowie in der ETH Galerie (HG F) stimmen zudem auf das Jubil?um ein.
Weitere Informationen gibt es auf der externe Seite Jubil?ums-Webseite und in Download diesem Flyer (PDF, 751 KB).
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