Eine Uni für die Beschützer des Regenwalds

Die Inga wollen mit einer Universit?t ihr indigenes Erbe lebendig erhalten, den kolumbianischen Regenwald als Lebensraum schützen und der Jugend eine Zukunft bieten. Die ETH-Professorin Anne Lacaton hat das Projekt mit ihren Studierenden zwei Semester lang begleitet.

Inga
Studierende w?hrend der Wanderung durch die Inga-Gebiete (Foto: Studio Lacaton)

Als die Studierenden der ETH Zürich und der Universit?t Javeriana an einem Sp?tabend im Oktober 2019 für die Rückkehr nach Villagarzón den Rio Caquetá überqueren, ist der Himmel so schwarz und klar, dass sie die Milchstrasse darin funkeln sehen. Das Wasser ist glatt und dunkel wie eine ?llache. Von beiden Ufern, dicht mit Regenwald bewachsen, dringt die Polyphonie der tropischen Insektenvielfalt aufs Boot. ?Die Studierenden wurden ganz still?, erz?hlt die Zürcher Künstlerin Ursula Biemann. ?Diese n?chtliche Bootsfahrt und die Sch?nheit des Moments werden wir nie mehr vergessen.?

Drogenkrieg und Umweltzerst?rung

Dieser unvergessliche Moment war die Kr?nung einer stundenlangen Wanderung durch das üppige, unwegsame Gel?nde von Putumayo. Einer Wanderung, die den Studierenden nicht nur die faszinierende Natur, sondern genauso die gr?sslichen Facetten dieser Region er?ffnete. Vorbei an Erd?lf?rderplattformen, die sich in den Regenwald hineinfressen, an Kokafeldern, deren Bauern in bitterer Armut leben, und vorbei am Motorenl?rm von Kettens?gen, die Platz für Viehherden schaffen. Die 17 Studierenden waren in den Süden Kolumbiens gereist, um das Territorium kennenzulernen, mit dem sie sich zuvor wochenlang besch?ftigt hatten: dem Lebensraum der Inga.

Die Inga sind eine von 87 indigenen Gruppen Kolumbiens und stammen von den Inkas ab, die sich entlang der Anden ausbreiteten und im 15.?Jahrhundert über das Amazonasbecken Ecuadors bis in den Regenwald Kolumbiens vorstiessen. Heute leben die über 15?000 Inga über mehrere 澳门美高梅金殿 und zehntausende von Hektaren Land verteilt, zwischen Andenausl?ufern und Amazonasbecken, in fragmentierten und oft nur schwer zug?nglichen Territorien. Viele Inga verdienen ihren Lebensunterhalt durch den Anbau von Koka, dem Grundstoff für die Produktion von Kokain. Auch Opium wurde angebaut und dafür viel Regenwald gerodet. Das Inga-Territorium stand deshalb lange im Mittelpunkt des seit den 1960er Jahren tobenden Kriegs um den Drogenanbau und -handel zwischen der FARC-Guerilla, Paramilit?rs und der Armee. Die Inga waren der grassierenden Gewalt und Verfolgung meist schutzlos ausgesetzt.

Als Reaktion auf diese Misere kam es 2004 in der 2000 Meter hoch gelegenen Gemeinde Aponte zu einem eindrücklichen Akt der Selbsterm?chtigung. Angestossen durch eine indigene Frauenorganisation und unterstützt durch die Regierung, begann die dortige Gemeinde ihre durch den Drogenanbau ausgelaugten B?den mit Hilfe von biologischen Düngern und viel Handarbeit wieder aufzuforsten und urbar zu machen. Anstelle von Koka pflanzten sie Kaffee und Fruchtb?ume. Treibende Kraft dieser Transformation war Hernando Chindoy, ein charismatischer Gemeindevorsteher, der die Inga in ihrem Bestreben nach mehr Selbstorganisation, Widerstand und kultureller Erneuerung anführt.

Mit der Bescheidenheit der Unwissenden starten

Vergr?sserte Ansicht: Inga-Führer Hernando Chindoy
Fahrt mit Inga-Führer Hernando Chindoy auf dem Fluss Caquetá (Foto: Studio Lacaton)

Die Zürcher Videokünstlerin Ursula Biemann lernte Chindoy im Sommer 2018 kennen, im Zuge einer Auftragsarbeit für das Museum für Gegenwartskunst in Bogotá. Zur Vorbereitung bereiste sie w?hrend fünf Wochen das Departement Putumayo, nachdem dieses aufgrund des 2016 durch Regierung und FARC unterzeichneten Friedens- und Entwaffnungsvertrags erstmals wieder zug?nglich geworden war. Geführt wurde sie durch Chindoy. ?Am letzten Tag, kurz vor dem Abschied, fragte mich Hernando: ?Wir wollen eine Universit?t aufbauen – hilfst du uns???. Biemann trug die Bitte in die Schweiz und erz?hlte Philip Ursprung vom Wunsch der Inga. Ursprung, damals Vorsteher des Departements Architektur an der ETH Zürich, war begeistert von der Idee. Er trommelte eine Runde Professoren und Professorinnen zusammen, damit Biemann das Projekt pr?sentieren konnte.

In der Runde sass auch Anne Lacaton, Professorin für Architektur und Entwurf. ?Ich bin stets dazu bereit, mich auf komplett Neues einzulassen?, sagt sie. Berühmt wurde die franz?sische Architektin mit dem Büro ?Lacaton&Vassal? durch Museen, Sozialbauten und Transformationen von bestehenden Wohnh?usern, vorwiegend in Frankreich. ?In unseren Projekten stellen wir uns zu Beginn immer auf den Standpunkt, dass wir nichts über den Kontext wissen, in dem wir bauen?, erkl?rt Lacaton ihr Credo. ?Das zwingt uns dazu, unsere Augen weit zu ?ffnen und einen eigenen Weg zu finden, um auf die gegebene Situation angemessen zu reagieren.? Die ?Bescheidenheit der Unwissenden? nennt die Professorin dies. Mit dieser Haltung begegnete sie auch dem Projekt im kolumbianischen Regenwald.

Lacaton widmete der Idee von einer indigenen Universit?t ein zweisemestriges Studio. Sie bestand jedoch von Anfang an darauf, dass ihr Studio keine fertigen L?sungen erarbeiten würde, also keine konkreten Pl?ne, Visualisierungen oder Berechnungen für einen 澳门美高梅金殿. Vielmehr wollte sie sich gemeinsam mit den Studierenden auf eine Reise machen, um den sozio?konomischen, politischen und territorialen Kontext der Inga zu erforschen, zu dokumentieren und zu verstehen. ?Man kann auch Architekt sein, ohne etwas zu bauen?, sagt Lacaton. Die Architektin als Ethnographin; das Studio als Katalysator, um die Bedürfnisse der Indigenen zu artikulieren.

Wissenskulturen verbinden

Die Inga hatten von Anfang an eigene Vorstellungen von ?ihrer? Universit?t. Ivan Vargas, ein kolumbianischer Projektmitarbeiter, beschreibt diese wie folgt: ?Die Indigenen beantworten ihre Forschungsfragen nicht nur durch das Lesen von Texten. Einer ihrer Lern- und Forschungspfade ist der Besuch der ?Chagra?, der gemeinsam bewirtschafteten G?rten zur Selbstversorgung, um dort die Diversit?t der Pflanzen zu würdigen. Dies ist für uns eine genauso wichtige Art des Lernens.? Ziel war es deshalb von Beginn an, einen interepistemiologischen Dialog zu lancieren und dadurch die Lern- und Forschungstraditionen der Indigenen mit denjenigen der etablierten, modernen Wissenschaften zusammenzubringen. Dadurch soll der eigene Wissensschatz, der oft nur mündlich durch Schamanen überliefert wird, ins 21. Jahrhundert gerettet werden.

Genauso wichtig ist die Universit?t aber auch als ein Ort der Anerkennung und Weiterentwicklung der eigenen indigenen Identit?t. Wie in den meisten Staaten Südamerikas wird die indigene Bev?lkerung auch in Kolumbien marginalisiert. Die eigene Sprache und die eigenen Br?uche sind zunehmend vom Aussterben bedroht. Die Regierung hat zwar Grundschulen für die Inga gebaut, doch wer studieren will, muss dafür nach Bogotá oder Medellín ziehen. Dort erwerben junge Inga F?higkeiten, die sie nicht für eine Rückkehr in ihre Gemeinde qualifizieren. Meist bleiben sie dann in der Stadt.

?Dieses Vorgehen ist nicht nur für den Aufbau einer indigenen Universit?t in Kolumbien interessant, sondern genauso für Architekturprojekte in Europa?Anne Lacaton

Vertreter der Inga kamen deshalb überein, welches die Schwerpunkte einer indigenen Universit?t sein sollen: Umweltnaturwissenschaften und ?kologische Landwirtschaft, traditionelle Medizin und territoriale Gouvernanz, basierend auf indigener Ethik und Naturrechten. Sprache, Semiotik und Geschichte k?nnten das Lehrprogramm abrunden. Indigene Lehrer sollen einst gleichberechtigt mit westlichen Professorinnen den Unterricht gestalten – miteinander und voneinander lernen gilt dabei als oberstes Ziel. Die Universit?t soll zugleich ein Zentrum für die Konservierung der einzigartigen Natur werden. Zwar sind Teile des Inga-Territoriums heute als Nationalpark geschützt, aber weder wurden Parkw?chter geschult, noch Methoden entwickelt, um diesen Schutz gegen Wilderer, Holzf?ller und informelle Kupfer- und Goldminen durchzusetzen.

Dezentral und an Umwelt angepasst

Im Juni stellten die ETH-Studierenden ihre Arbeiten virtuell vor und diskutierten sie mit Professorinnen und Experten aus der Schweiz und Kolumbien. Wie von Lacaton angeregt, pr?sentierten die fünf Arbeitsgruppen keine konkreten Bauprojekte, sondern fünf Strategien für den Aufbau einer Universit?t. Darunter die Idee, den 澳门美高梅金殿 zu dezentralisieren und ihn entlang der weit auseinanderliegenden Inga-Gemeinden aufzubauen. Je nach Studieninhalt eignet sich dafür als Standort ein urbanes Zentrum, ein Landwirtschaftgebiet in der Ebene oder eine h?her gelegene Nebelwaldregion. Eine andere Gruppe hat sich vertieft mit den Lehrinhalten auseinandergesetzt und ein m?gliches Studiencurriculum entworfen, inklusive Semesterablauf. Auch Prozesse für die weitere Entscheidungsfindung wurden angedacht und Strategien, wie die Universit?t über die Jahre hinweg weiterentwickelt werden k?nnte.

Die Professur hat nun ein Buch mit Essays, Fotografien, Studien, Pl?nen und Erfahrungsberichten erarbeitet, das ins Spanische übersetzt wird. Ursula Biemann, die im Herbst für ihre künstlerische Arbeit erneut in die Region Putumayo reisen will, wird die Ideen mit den Inga diskutieren.

Auch an der ETH wird das Projekt voraussichtlich weitergetragen. Zwar wurde Anne Lacaton im Juli emeritiert, doch bereits hat Teresa Galí-Izard, seit Januar Professorin für Landschaftsarchitektur, Interesse angekündigt, die Studien zur Inga-Universit?t weiterzuführen. Lacaton wünscht sich, dass die indigene Universit?t ihren Betrieb bald aufnehmen wird. ?Die ?Universit?t? kann in einer bestehenden Schule starten; auch ohne 澳门美高梅金殿.? Sie denkt die Universit?t nicht als fertiges Produkt, sondern vielmehr als einen konstanten, iterativen Prozess. ?Dieses Vorgehen ist nicht nur für den Aufbau einer indigenen Universit?t in Kolumbien interessant, sondern genauso für Architekturprojekte in Europa?, ist Lacaton überzeugt.

Dieser Text ist in der aktuellen Ausgabe des ETH-Magazins Globe erschienen.

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